Dringend gesucht: Banker fürs Bündnerland | Graubündner Kantonalbank

Dringend gesucht: Banker fürs Bündnerland

Floriana Niemann 25.04.2024

Autor André Müller, erschienen am 28. Dezember 2021 in der NZZ

Die Balken in Alex Villigers Präsentation sprechen eine klare Sprache: Graubünden gehen in den nächsten zehn Jahren die jungen Leute aus. 1964 kamen im Kanton noch 3073 Kinder zur Welt, 2005 waren es 1528. In fünf bis zehn Jahren werden die Bündner Firmen also, wenn sie nichts dagegen tun, jährlich doppelt so viele Pensionierungen wie Neueintritte vermelden. «Alle kennen diese Kurve», sagt Villiger, «aber niemandem ist bewusst, wie radikal dieser Einbruch sein wird. Und welche Konsequenzen er für unseren Wirtschaftsraum haben wird.» Als Personalchef der Graubündner Kantonalbank (GKB) will er diesen Exodus bei seiner Bank verhindern. Das wird nicht einfach: Die spärlichen Nachwuchskräfte treten immer später ins Berufsleben ein, weil sie vermehrt studieren, anstatt eine Lehre anzufangen. Und als Randregion verliert Graubünden viele Junge an die Zentrumskantone.

Der Braindrain sei enorm, sagt Villiger mit Verweis auf Zahlen der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren:«60 Prozent der Studierenden, die den Kanton verlassen, kommen in den fünf Jahren nach ihrem Abschluss nicht wieder zurück.» Wie man solche Leute zurückholt, müsste Villiger eigentlich wissen. Er ist selbst ein Rückkehrer: Im Jahr 2000 zog er nach seiner Promotion an der Universität St. Gallen in seine Heimat Graubünden zurück; wegen der Familie und um seine Stelle bei der GKB als Leiter der Unternehmensentwicklung anzutreten. 2008 wurde er Personalchef und startete bald darauf sein Langzeitprojekt, junge Talente nach Chur zu locken und hier zu halten. Dafür setzen Villiger und seine Bank auf eine ziemlich radikale Strategie. Das Vorhaben ist kein Selbstläufer, denn während das Angebot an Talenten schrumpft, steigt die Nachfrage. Die Banken bauen derzeit zwar Bürostellen ab, brauchen aber zahlreiche Experten, um neue digitale Angebote zu bauen und zu vermarkten, seien das Hypothekenplattformen oder Säule-3a-Apps. Datenanalytiker und Plattformentwicklerinnen sind jedoch auch in der Tech- oder Pharmabranche gefragt, wo noch bessere Löhne gezahlt werden als in Kantonalbanken. Woher also die Mitarbeiter nehmen? Aus dem Ausland, wie bisher, dank besseren Löhnen?

Villiger glaubt nicht recht daran, denn ganz Europa kämpfe mit demselben Problem, was zu steigenden Löhnen führen werde. «Mit Deutschland haben wir schon jetzt einen neutralen Wanderungssaldo, weil viele in der Heimat eine Zukunft und gute Perspektiven vorfinden.» Einer GKB bliebe daher keine andere Möglichkeit, als die verbleibenden Jungen für sich zu gewinnen. Das Durchschnittsalter der Bank soll bei 40 Jahren bleiben, damit sie nicht überaltert und für junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv bleibt.

Die Bank muss jung bleiben

Erstens setzt die GKB dafür auf neue Arbeitsformen – im Moment noch im HR, das als Testlabor fungiert. In Villigers als «Squad» organisiertem Team gibt es keine Hierarchien und fixen Jobprofile mehr, sondern Rollen auf Zeit: «Mein Team organisiert sich selbst und hat alle Kompetenzen. Ich entscheide nichts mehr für sie,sondern fungiere als Sparringpartner.» Im Grossraumbüro stehen keine Schränke, es gibt keine fixen Arbeitsplätze mehr. Villiger hat sein Eckbüro mit Blick auf die Berge und manche Befugnisse als Chef geopfert. Ob im Home-Office oder im Büro gearbeitet wird, gibt nicht mehr er vor, sondern das Team selbst im Konsens. Wenn jemand in die Ferien fährt und in seinem Bereich Fragen auftauchen, entscheidet kurzerhand das Kollektiv für ihn.

Der Umbau geht aber noch tiefer, ins Herz jeder Arbeitsbeziehung: direkt auf den Lohn. Im Personalbereich verdienen alle neuen Mitarbeiter im Squad-Team dasselbe Basissalär. Von der Erfolgsbeteiligung – bei der GKB wird ein fixer Teil des Gewinns an die Mitarbeiterinnen ausgeschüttet – verteilt Villiger die Hälfte, die andere das Team selbst: Jeder und jede muss aber aus unternehmerischer Perspektive begründen, warum die Teamkollegin einen Bonus verdient. Ein solches System liegt nicht allen, wie Villiger offen sagt. Einige Mitarbeitende verliessen das HR-Team, weil sie mehr Sicherheit und einen klarer abgesteckten Rahmen behalten wollten. Doch für andere scheint das Modell zu passen. «Netzwerk und Sinn – diese zwei Themen sprechen die Jungen an. Seit wir im HR so arbeiten, ziehen wir viele gute Leute an», sagt der Personalchef. Ländlich geprägte Kantonalbanken gelten gemeinhin nicht als Vorreiter neuer Arbeitsformen.

Rufen die ungewohnten Ideen keinen Widerstand in der Belegschaft hervor? «Wir experimentieren in unserem Bereich, zeigen Beispiele auf und versuchen andere zu überzeugen», sagt Villiger, «aber wir ordnen nichts an.» Dass die anderen Bereiche selbst über ihre Organisationsform entscheiden, schwächt mögliche Opposition sicherlich. Der Lackmustest, ob sie diese übernehmen, steht indes noch aus. Klar ist, dass der Personalchef weiterhin die Unterstützung der Bankspitze braucht. Zweitens bezieht die GKB für die Weiterentwicklung der Bank, ihrer Kultur und ihrer Produkte inzwischen gezielt Nachwuchskräfte ein: Sie hat dafür zwei Netzwerke aufgebaut. Für ein externes Netzwerk, «Millennial Board» genannt, gewann Villiger Talente aus allen Hochschulen und Landesteilen. Die 15 Teilnehmer trafen sich zunächst ein Jahr lang monatlich in Chur, um den Bankkunden und -mitarbeiter der Zukunft zu entwerfen: Welche Werte sind ihnen wichtig? In welcher Kultur wollen sie arbeiten? Welche Benefits sprechen sie an? Diese Arbeit fliesst seither in neue GKB-Produkte und -Prozesse ein. Die Millennials – für die GKB die zwischen 1985 und 1999 Geborenen – seien stärker intrinsisch motiviert, mehr als seine eigene Generation, sagt der 53-jährige Villiger. Nie habe jemand nach Spesenerstattung gefragt, obwohl die Treffen jeweils am Samstag und somit in der Freizeit stattgefunden hätten. Dafür hat das Millennial-Netzwerk unter dem Leitspruch «Your Business, Our Generation» inzwischen ein eigenes Beratungsunternehmen auf die Beine gestellt.

 

«Nebst der Eigenentwicklung könnten die Banken auch auf ‹Heimwehurner oder -bündner› setzen.»

Andreas Dietrich, Professor, Hochschule Luzern

 

Das interne Talent-Netzwerk, Futura, besteht aus 15 jungen Mitarbeitern der GKB selbst. «Sie rekrutieren selbst neue Mitglieder, entwickeln selber Produkte. Niemand kann ihnen irgendetwas sagen, es gibt keine Hierarchie», fasst Villiger den anarchistisch anmutenden Aufbau zusammen. Unter Mitarbeit des Futura-Teams sind beispielsweise das neue Führungsleitbild oder der neue Unternehmenszweck der GKB entstanden, mit dem sie fortan schweizweit auf sich aufmerksam machen will: «Für die beste Zukunft aller Zeiten». Zudem haben die «Futuras» alle rund 200 Führungskräfte der GKB darin ausgebildet, wie Führung auf Distanz und in flachen Organisationsformen funktioniert und wie junge Mitarbeiter geführt werden wollen. Villiger animiert nun andere Graubündner Firmen, ähnliche interne Netzwerke aufzubauen. Ein Architekturbüro hat das beispielsweise schon getan, die Krankenkasse ÖKK ist daran. Aus diesen Netzwerken soll dann ein Meta-Netzwerk aller Jungtalente des Kantons gewoben werden. Ziel: Graubünden soll als Ganzes ein Magnet für engagierte junge Arbeitnehmer werden. Ein Ort, wo Talente hinziehen, weil sie auf andere Talente treffen. Die beteiligten GKB-Mitarbeiterinnen würden einen Teil ihrer Arbeitszeit selbständig für interessante Projekte bei Firmen im Meta-Netzwerk einsetzen. Also nicht mehr nur für die Kantonalbank, die ihren Lohn zahlt. Dafür arbeiteten fallweise junge Mitarbeiter aus anderen Firmen und Branchen an den Projekten der GKB mit. «Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass der Mitarbeiter ein Leibeigener ist», sagt Villiger. «Er ist eine Ich-AG, der am besten weiss, wie er sein Potenzial für die Firma und den Wirtschaftsraum gut einsetzen kann.»

Perspektiven für KV-Banker

Drittens setzt die GKB auf die Weiterbildung ihrer heutigen Mitarbeiter, die noch zu wenig Know-how für die digitale Zukunft mitbringen: Die Bank hat dafür ein Programm mit der Fachhochschule Graubünden aufgesetzt, verteilt über zwei Semester à je 18 Arbeitstage, wobei die Teilnehmer auch sechs Samstage beisteuern müssen. Im ersten Teil, der im Sommer mit einer Pilotklasse lanciert wurde, werden den Mitarbeitern allgemeine Management-Techniken beigebracht.

Im zweiten Teil, der im Sommer 2022 starten soll, geht es um wichtige Themen der digitalen Ökonomie. 500 der heute 1000 GKB-Mitarbeiter sollen das Programm in den nächsten zehn Jahren durchlaufen. Das sind alle, die nicht bereits einen Studienabschluss mitbringen oder deren Pensionierung schon vor der Tür steht. Villigers Ziel ist es wiederum, dass sich alle grösseren Arbeitgeber der Region einschliesslich der Kantonsverwaltung am Weiterbildungsprogramm beteiligen; die Klassen würden diverser und die Stückkosten weiter sinken. Die Regierung des Kantons Graubünden hat das Projekt inzwischen als «Leuchtturm» klassifiziert und finanzielle Unterstützung zugesichert. Für die GKB selbst soll die Ausbildungsoffensive bereits jetzt kostenneutral sein, weil sie gemäss Villiger ihren bisherigen Weiterbildungskatalog von 80 auf 10 Kernangebote zurückgestutzt hat.

Wie durchdacht ist das GKB-Konzept? Die Resultate werden sich naturgemäss erst im Lauf der Jahre zeigen, ein Fazit lässt sich noch nicht ziehen. Zumindest das Problem hat die Bank aber wohl richtig erkannt. «Wegen der ausscheidenden Babyboomer, der vor 1965 geborenen Generation, entsteht ein grosser Bedarf an qualifiziertem Personal. Banking wird ein Arbeitnehmermarkt sein», sagt Andreas Dietrich, Bankenprofessor an der Hochschule Luzern und selbst Verwaltungsrat der Luzerner Kantonalbank. Es sei ratsam, sich als Bank früh damit auseinanderzusetzen, insbesondere in ländlichen Regionen, ausserhalb des grossen Arbeitsmarkts Zürich. Die Eigenentwicklung von Mitarbeitern sei langfristig das beste Gegenmittel, sagt Dietrich: «Man kann drei Lehrlinge aus der Region suchen – damit einer zum guten und loyalen Kundenberater heranwächst.» Die Kantonalbanken begännen überdies vermehrt, sagt Dietrich, Maturandinnen und anderen Mittelschulabgängern Trainee-Stellen auf der Bank anzubieten. Es ist auch eine Reaktion darauf, dass sich gute Schüler nicht mehr so leicht für eine Banklehre begeistern lassen wie früher. Nebst der Eigenentwicklung könnten die Banken auch auf «Heimwehurner oder -bündner» setzen, rät Dietrich.

Zehn Jahre Rückstand

HSG-Professorin Heike Bruch, die zu neuen Arbeitsmodellen forscht und mit Villiger zusammenarbeitet, betont, dass die Bankbranche insgesamt einige Jahre Verspätung gegenüber der IT- oder Kommunikationsbranche aufweise. Eine Swisscom hätte etwa schon vor mehr als einem Jahrzehnt die Transformation vom Festnetzanbieter zum Inhalteproduzenten bewältigen und dafür neue, digital affine Mitarbeiter anwerben müssen. Allein Firmen wie Microsoft Schweiz hätten genug offene Projekte, um Tausende Digital-Cracks anzustellen, sagt Bruch. «Viele Arbeitgeber denken, dass sich das Problem allein mit Personalmanagement lösen lässt, etwa mit dem Polieren der Website oder mit modernen Entwicklungsangeboten», sagt sie.

Doch der nötige Umbau setze viel tiefer an: Unternehmens- und Führungskultur, die Art der Zusammenarbeit und das Mindset müssten grundlegend transformiert, die bisherigen Chefs entwickelt werden. Das geht nicht von heute auf morgen. Banken hätten per se nicht mehr Mühe als Unternehmen anderer Branchen, neue Arbeitsmodelle einzuführen, sagt Bruch. Doch wer traditionell stark auf extrinsische Motivation setze, habe es schwer, diese engagierte junge Mitarbeiterin zu finden und zu binden. «Die Förderung von Eigeninitiative steht im Widerspruch zu einer bonusgetriebenen Kultur.» Personalstrategie und Unternehmenskultur sind Mittel zum Zweck; am Ende des Tages müssen auch die Zahlen stimmen. Die GKB ist profitabel, hat im ersten Halbjahr einen Konzerngewinn von 112 Mio. Fr. erzielt. Doch die Herausforderungen der Bank gehen schon heute über den Arbeitsmarkt hinaus. Sie muss nebst dem traditionell dominierenden Hypothekargeschäft andere Standbeine stärken; sie will hierfür das eigene Anlagegeschäft weiter forcieren und vermehrt national auftreten. Sie muss überdies angesichts abnehmender Kundenfrequenzen eine politisch heikle Balance finden, wie viele Filialen sie in welcher Form noch betreibt.

Die GKB hat seit ihrer New-Work-Offensive bereits zahlreiche Preise als beste Arbeitgeberin gewonnen; das spricht sich herum. Ob sie zu den Gewinnern der Digitalisierung des Bankgeschäfts gehören wird, kann heute niemand vorhersagen. Aber falls Alex Villigers Plan misslingt und ihr bis 2030 die Mitarbeiter ausgehen, kann sie nicht einmal an die Startlinie treten.

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